Montag, 11. August 2014

B-Seiten

Ich stehe in einem Plattenladen in einer Seitengasse der Stadt. Vor dem Laden eine stille Gasse aus Kopfsteinpflaster und ein Hauch längst vergangener Zeiten. Um mich herum verströmen unzählige Vinylplatten und ihre leicht vergilbten Cover einen unverwechselbaren Duft. Ich blättere durch die Tonträger und fühle mich für einen Moment zurückversetzt in die wilden Siebziger, kann beinahe die verzerrten und ungebändigten Klänge des frühen Rock hören und habe fast das vertraute Gefühl von Staub und Schweiß auf der Haut, das sich auf jedem Festival unweigerlich einstellt.
Ich stehe schon mindestens eine halbe Stunde in dem voll gestopften Laden und sehe mich selbstvergessen um, als der Besitzer des Ladens, ein bärtiger älterer Herr, mich nach meinen Wünschen fragt.
„B-Seiten“, sage ich und lächele den Mann an.
In seinem Gesicht zeigt sich ein leichtes Lächeln, so als verstünde er genau, warum ich nach gerade dieser bestimmten Sorte Musik suche. Seine runden Brillengläser funkeln vergnügt, als er mich erwartungsvoll ansieht. So hätte John Lennon ausgesehen, wenn er alt geworden wäre, denke ich mir. Und ehe ich mich bremsen kann, fange ich auch schon an, mich ihm zu erklären:
„B-Seiten sind keine Superhits, kein Glanz, kein Glamour“, fange ich an,“sie sind einfach da und zeigen ganz andere Seiten einer Band. Das Traurige, wo alles schön scheint und das Positive und Experimentelle, wo alles festgefahren und melancholisch ist.
Auf B-Seiten ist Platz zum Ausprobieren, zum Träumen. Es sind persönliche Songs, die zuerst gar nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren.
Und manchmal, ja manchmal sind B-Seiten unangenehm. Sie kratzen, kreischen, sind laut und unangenehm. Unmelodisch, ungeschliffen, unerpobt.
Aber macht sie das nicht zu etwas ganz besonderem?“
Ich sehe den alten Mann an und blicke geradewegs in ein Augenpaar, dass noch vergnügter funkelt als vorher. Er versteht. Ich bin irgendwie erleichtert und fahre fort:
„Ist es nicht schön, den Staub von einer Platte wischen zu müssen, die schon zu lange im Regal stand; sie erst ausgraben zu müssen, damit der Staub nicht an der Plattenspielernadel hängenbleibt?
B-Seiten sind kompliziert, aber wenn man sie besitzt, lassen sie einen häufig nicht mehr los. Man bleibt hängen an den Songs, an den lange im Veborgenen belassenen Versionen mancher Welthits. Sie hinterlassen Spuren, so wie der Staub an der Plattennadel.
Diese Platten sind nicht dafür gemacht, möglichst viele Wünsche der Fans zu erfüllen, sie machen ihr eigenes Ding ohne Rücksicht auf Verluste. Und manche Songs gibt es eben nur in der leicht kratzigen live-Version von einem Festival hinter dem Ende der Welt.“
Ich bin etwas außer Atem und hole erst einmal tief Luft.
Der alte Mann lacht nun vergnügt und sein Bart zittert dabei.
„Du hast Recht“, beginnt er mit bedächtiger Stimme, „B-Seiten sind besonders. Manchmal mühsam, manchmal schrill und manchmal einfach nur todtraurig. Von vielen unverstanden, doch von wenigen vergöttert. Manchmal die dunkle Seite der Macht, verboten, aber interessant.“
Ich lächle John Lennon zu und er lächelt zurück. er versteht mich.
Dann führt er mich zu einem Regal, an dem ein altes Schild klebt, auf dem in verblichener Schrift geschrieben steht:

Sind wir nicht alle ein bisschen „B-Seite“.


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