Montagmorgen,
überfüllter Bus, miesmuffelige Schüler auf dem Weg in die
Bildungsvollzugsanstalten.
Unterhaltungen,
die sich um die Tatsache drehen, dass das Mathebuch zu Hause bleiben
musste, damit Glätteisen, Fön und Schminktäschchen in die viel zu
kleine Schul... äh, nein, HANDtasche passen.
Vereinzelt
werden dazwischen einzelne Handyklingeltöne laut, die aus völlig
überteuerten Handys irgendwelcher Unterstufler dudeln.
Unterhaltungen
zwischen Erwachsenen gehen komplett in der schnatternden
Geräuschkulisse unter. Früher war ja, wie zur Genüge bekannt,
sowieso alles besser.
Im
krassen Gegensatz dazu stehen die Gespräche vieler halbwüchsigen
jungen Damen:
„Du
hast soooo schöne Haare/Hände/Ohren/Füße/Beine/Leggins/Fellpuschen“
Dabei
ist beinah die Hälfte dieser Aussagen glattweg gelogen. Fakt
ersichtlich aus Gesichtsausdruck der Komplimenteverteiler, wenn die
angeblich BFF nicht hinsieht sowie den (natürlich rein objektiven,
optischen Tatsachen.
Lügen,
Lügen, nochmals Lügen!
Kann
man sich heutzutage nicht mehr offen und ehrlich ins Gesicht sagen,
dass der Gesprächspartner aussieht, als würden sich zwei Vögel um
seinen Kopf als Nistplatz streiten? Darf man nicht mehr erwähnen,
dass dem Gegenüber gleich sonst was aus dem Ausschnitt fällt und
man daher Angst um seine körperlich (und manchmal auch geistige)
Gesundheit hat?
Und
nicht zuletzt: Darf man laut des seltsamen, neuen und literarisch
gesehen inoffiziellen Knigge nicht mal mehr anmerken, dass dem
Gegenüber gleich das falsche Gesicht, oh, pardon, das Make-up, aus
dem Gesicht bröckelt, sollte besagter Gegenüber überhaupt mal die
Gnade besitzen, den
„Ich-bin-was-Besseres-und-ihr-könnt-mich-alle-mal-Gesichtsausdruck“
in einen
„Ich-bin-beleidigt-weil-mein-Gegenüber-sagt-meine-Fellpuschen-sind-hässlich-Gesichtsausdruck“
zu ändern?
Aber
es ist scheinbar nicht mehr möglich, so etwas von sich zu geben,
ohne von den inoffiziellen Sozialkompetenz-Ratingagenturen von A auf
B- gesetzt zu werden.
Wäre
falsche Freundlichkeit sichtbar, hätte die Menschheit ein Problem.
Ein Fäden ziehendes, klebrigsüßes Problem.
Das
falsche, aufgesetzte Lächeln würde vielen unserer Mitmenschen vom
Gesicht tropfen wie dickflüssiges Saccharin.
Wir
würden kaum vorwärts kommen, der Boden würde kleben, die Straßen
sowieso.
Die
Welt wäre übervoll mit zähflüssigem Glukosesirup.
Aus
den Mündern der Politiker, deren Reden zu jedem Anlass gleich gut
passen, so wie Arsch auf Eimer, nur ein bisschen lyrischer, ergießt
sich ein steter Quell geheuchelter, synthetischer Freundlichkeit.
Zu
süß, mit bitterem Nachgeschmack, das eigentliche Hungergefühl in
verstärkter Form zurücklassend.
Viel
gesprochen und doch nichts gesagt. Betrug und Selbstbetrug wie Coke
Zero, ohne Zucker selbstverständlich.
Schweigen
und Wasser wären besser, wären wenigstens ehrlich.
Zeugnisvergabe,
bange Erwartung, vernichtende Kopfnote.
„Im
Fach Sport war sie stets bemüht.“
Dieser
Satz bewirkt nur, dass ich mich noch unmotorischer fühle als sowieso
schon und außerdem noch Bedenken habe, das Zeugnis anzufassen, aus
Angst, daran festzukleben und den Wisch den Rest meines Lebens mit
mir herumzutragen, weil solche pseudo-freundlichen Euphemismen
bekanntlich länger an einem haften als das beste Epoxy-Harz.
Warum
können die nicht einfach schreiben:
„Im
Fach Sport die reinste Katastrophe“? Denn ich muss zugeben, dass
das des Pudels Kern besser träfe.
Ehrlich
währt definitiv am längsten, denn was wahr ist muss wahr bleiben.
Aber was ist heute schon Ehrlichkeit ?
Zwischen
destruktiver und konstruktiver Kritik, positiver und negativer
Konditionierung und nicht zuletzt Positivkorrektur fällt es recht
schwer, sich zu entscheiden. Wer (noch) nicht in den Genuss eines
Pädagogik-Studiums gekommen ist, versteht sein eigenes Zeugnis ja
kaum mehr.
Und
überhaupt: Seit wann hat Ehrlichkeit ein Vorzeichen?
Ist
ehrlich nicht ehrlich und weder positiv noch negativ?
Wo
bleibt die nackte, ungeschminkte, ungephotoshopte Wahrheit in dieser
Welt voll pädagogisch wertvoller Evaluation?
Irgendein
Nachmittag, Spielplatz, glückliche Kinder fernab von
gesellschaftlichen Konventionen. Kinder zu beobachten ist fast besser
als jedes Soziologie/Pädagogik/Psychologie-Studium.
Wenn
ein Kind einem anderen im Sandkasten die Schaufel klaut, dann würde
niemand sofort auf die Idee kommen, an der Sozialkompetenz des
kleinen Rackers zu zweifeln. Und dem Kind, das weint, weil ihm das
andere Kind die Schaufel geklaut hat, würde trotz des Weinkrampfs,
mit dem bei Kleinkindern ja bekanntlich bei jeder Gelegenheit zu
rechnen ist, nicht sofort zum Therapeuten geschickt werden, um die
tiefenpsychologischen Auswirkungen dieses traumatischen Erlebnisses
zu ergründen.
Außerdem
sind Kinder meist noch herrlich ehrlich.
Bei
ihnen ist man nicht „pädagogisch besonders zu fördernder
Underachiever“, sondern schlicht doof.
Man
ist nicht mit „wenig ausgeprägten sozialen Kernkompetenzen“
ausgestattet sondern einfach ein gemeines Kind und „nicht mehr mein
Freund“. Für einen Tag.
Zum
Glück wissen besagte Kinder zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass ihnen
Sätze wie „Du bist doof“ und „Meine Gummistiefel sind viel
besser als deine“ deutlich krummer genommen werden, sobald sie erst
mal älter sind und mitten im ganz normalen Wahnsinn des Mikrokosmos
der „Jugend von heute“ feststecken.
Man
soll Kinder von giftigen Chemikalien fernhalten und ihnen möglichst
nichts in die Hand geben, womit man höhere Organismen als eine Amöbe
töten könnte.
Verbal
werfen Kinder allerdings eher mit Arsen und Zyankali um sich statt
wie ihre erwachsenen Mitmenschen die als Kompliment getarnte
Abneigung den davon betroffenen Personen in einem Schwall Saccharin
vor die Füße zu kotzen.
Kinder
sind so gesehen verbale Giftmischer.
Aber
vielleicht ist es genau das, was diese verquere Welt braucht: Ein
bisschen mehr Ehrlichkeit, ein bisschen weniger aufgesetzte
Freundlichkeit, ein bisschen weniger Hintergedanken. Einfach ein
bisschen mehr Arsen im Saccharin.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen