Dienstag, 19. August 2014

Arsen und Saccharin

So, ich melde mich auch mal wieder zu Wort, und da ich die letzte Woche leider eine Zwangspause einlegen musste, hier ein Text, der schon auf mehreren Poetry-Slams im hohen Norden zum Besten gegeben wurde. Sozusagen ein Text der ersten Stunde.


Montagmorgen, überfüllter Bus, miesmuffelige Schüler auf dem Weg in die Bildungsvollzugsanstalten.
Unterhaltungen, die sich um die Tatsache drehen, dass das Mathebuch zu Hause bleiben musste, damit Glätteisen, Fön und Schminktäschchen in die viel zu kleine Schul... äh, nein, HANDtasche passen.
Vereinzelt werden dazwischen einzelne Handyklingeltöne laut, die aus völlig überteuerten Handys irgendwelcher Unterstufler dudeln.
Unterhaltungen zwischen Erwachsenen gehen komplett in der schnatternden Geräuschkulisse unter. Früher war ja, wie zur Genüge bekannt, sowieso alles besser.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Gespräche vieler halbwüchsigen jungen Damen:
Du hast soooo schöne Haare/Hände/Ohren/Füße/Beine/Leggins/Fellpuschen“
Und das jeden Morgen, mitten in Deutschland, mitten UNTER UNS!!!
Dabei ist beinah die Hälfte dieser Aussagen glattweg gelogen. Fakt ersichtlich aus Gesichtsausdruck der Komplimenteverteiler, wenn die angeblich BFF nicht hinsieht sowie den (natürlich rein objektiven, optischen Tatsachen.
Lügen, Lügen, nochmals Lügen!

Kann man sich heutzutage nicht mehr offen und ehrlich ins Gesicht sagen, dass der Gesprächspartner aussieht, als würden sich zwei Vögel um seinen Kopf als Nistplatz streiten? Darf man nicht mehr erwähnen, dass dem Gegenüber gleich sonst was aus dem Ausschnitt fällt und man daher Angst um seine körperlich (und manchmal auch geistige) Gesundheit hat?
Und nicht zuletzt: Darf man laut des seltsamen, neuen und literarisch gesehen inoffiziellen Knigge nicht mal mehr anmerken, dass dem Gegenüber gleich das falsche Gesicht, oh, pardon, das Make-up, aus dem Gesicht bröckelt, sollte besagter Gegenüber überhaupt mal die Gnade besitzen, den „Ich-bin-was-Besseres-und-ihr-könnt-mich-alle-mal-Gesichtsausdruck“ in einen „Ich-bin-beleidigt-weil-mein-Gegenüber-sagt-meine-Fellpuschen-sind-hässlich-Gesichtsausdruck“ zu ändern?
Aber es ist scheinbar nicht mehr möglich, so etwas von sich zu geben, ohne von den inoffiziellen Sozialkompetenz-Ratingagenturen von A auf B- gesetzt zu werden.
Wäre falsche Freundlichkeit sichtbar, hätte die Menschheit ein Problem. Ein Fäden ziehendes, klebrigsüßes Problem.
Das falsche, aufgesetzte Lächeln würde vielen unserer Mitmenschen vom Gesicht tropfen wie dickflüssiges Saccharin.
Wir würden kaum vorwärts kommen, der Boden würde kleben, die Straßen sowieso.
Die Welt wäre übervoll mit zähflüssigem Glukosesirup.
Aus den Mündern der Politiker, deren Reden zu jedem Anlass gleich gut passen, so wie Arsch auf Eimer, nur ein bisschen lyrischer, ergießt sich ein steter Quell geheuchelter, synthetischer Freundlichkeit.
Zu süß, mit bitterem Nachgeschmack, das eigentliche Hungergefühl in verstärkter Form zurücklassend.
Viel gesprochen und doch nichts gesagt. Betrug und Selbstbetrug wie Coke Zero, ohne Zucker selbstverständlich.
Schweigen und Wasser wären besser, wären wenigstens ehrlich.

Zeugnisvergabe, bange Erwartung, vernichtende Kopfnote.
Im Fach Sport war sie stets bemüht.“
Dieser Satz bewirkt nur, dass ich mich noch unmotorischer fühle als sowieso schon und außerdem noch Bedenken habe, das Zeugnis anzufassen, aus Angst, daran festzukleben und den Wisch den Rest meines Lebens mit mir herumzutragen, weil solche pseudo-freundlichen Euphemismen bekanntlich länger an einem haften als das beste Epoxy-Harz.
Warum können die nicht einfach schreiben:
Im Fach Sport die reinste Katastrophe“? Denn ich muss zugeben, dass das des Pudels Kern besser träfe.

Ehrlich währt definitiv am längsten, denn was wahr ist muss wahr bleiben. Aber was ist heute schon Ehrlichkeit ?
Zwischen destruktiver und konstruktiver Kritik, positiver und negativer Konditionierung und nicht zuletzt Positivkorrektur fällt es recht schwer, sich zu entscheiden. Wer (noch) nicht in den Genuss eines Pädagogik-Studiums gekommen ist, versteht sein eigenes Zeugnis ja kaum mehr.
Und überhaupt: Seit wann hat Ehrlichkeit ein Vorzeichen?
Ist ehrlich nicht ehrlich und weder positiv noch negativ?
Wo bleibt die nackte, ungeschminkte, ungephotoshopte Wahrheit in dieser Welt voll pädagogisch wertvoller Evaluation?

Irgendein Nachmittag, Spielplatz, glückliche Kinder fernab von gesellschaftlichen Konventionen. Kinder zu beobachten ist fast besser als jedes Soziologie/Pädagogik/Psychologie-Studium.
Wenn ein Kind einem anderen im Sandkasten die Schaufel klaut, dann würde niemand sofort auf die Idee kommen, an der Sozialkompetenz des kleinen Rackers zu zweifeln. Und dem Kind, das weint, weil ihm das andere Kind die Schaufel geklaut hat, würde trotz des Weinkrampfs, mit dem bei Kleinkindern ja bekanntlich bei jeder Gelegenheit zu rechnen ist, nicht sofort zum Therapeuten geschickt werden, um die tiefenpsychologischen Auswirkungen dieses traumatischen Erlebnisses zu ergründen.

Außerdem sind Kinder meist noch herrlich ehrlich.
Bei ihnen ist man nicht „pädagogisch besonders zu fördernder Underachiever“, sondern schlicht doof.
Man ist nicht mit „wenig ausgeprägten sozialen Kernkompetenzen“ ausgestattet sondern einfach ein gemeines Kind und „nicht mehr mein Freund“. Für einen Tag.

Zum Glück wissen besagte Kinder zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass ihnen Sätze wie „Du bist doof“ und „Meine Gummistiefel sind viel besser als deine“ deutlich krummer genommen werden, sobald sie erst mal älter sind und mitten im ganz normalen Wahnsinn des Mikrokosmos der „Jugend von heute“ feststecken.
Man soll Kinder von giftigen Chemikalien fernhalten und ihnen möglichst nichts in die Hand geben, womit man höhere Organismen als eine Amöbe töten könnte.
Verbal werfen Kinder allerdings eher mit Arsen und Zyankali um sich statt wie ihre erwachsenen Mitmenschen die als Kompliment getarnte Abneigung den davon betroffenen Personen in einem Schwall Saccharin vor die Füße zu kotzen.

Kinder sind so gesehen verbale Giftmischer.

Aber vielleicht ist es genau das, was diese verquere Welt braucht: Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, ein bisschen weniger aufgesetzte Freundlichkeit, ein bisschen weniger Hintergedanken. Einfach ein bisschen mehr Arsen im Saccharin.

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