Montag, 6. Oktober 2014

Real Life Adventures 2.0: Eine Katastrophe in sechs Regionalzügen oder auch: Dennis

Meine Damen, meine Herren, danke, dass Sie mit uns reisen. Zu abgefahrenen Preisen, auf abgefahrenen Gleisen. Für Ihre Leidensfähigkeit danken wir spontan: Sänk juu for träwelling wis Deutsche Bahn.“ (Wise Guys)

Tarp, 5:15 Uhr

Gnarfgrrmmhhhuaaaaaaul“, gähne ich und ernte nur einen skeptischen Seitenblick der Person neben mir, der ebenfalls die Augen zuzufallen drohen.
Ich ernte ein unbestimmtes „Hmm“ und einen erleichterten Seufzer, als pünktlich fünf Minuten zu spät der Regionalexpress nach Hamburg einfährt, dessen kreischende Bremsen noch das letzte bisschen Enthusiasmus ob der bevorstehenden Fahrt zuverlässig vernichten.
Die erste Frage, die jemand stellt lautet da so frohlockend: „Und warum tun wir uns das gleich nochmal an?!“
Ich antworte mit einem unbestimmten „Grmmpf“ und setzte mich hin.


Hamburg Harburg, 8:20 Uhr

Ey, ich hab meinen Joint verloren, habt ihr den gesehen?“, dringt eine penetrant bekifft-besoffene-was-auch-immer-Stimme an mein Ohr.
Der Typ sieht aus wie Oskar aus der Mülltonne und zeigt uns stolz sein HVV-Jahresticket. Wir beneiden ihn ein bisschen und finden dann, dass so etwas Verschwendung sei. Seinen Joint haben wir natürlich auch nicht gefunden, wünschen uns aber bald, es wäre so gewesen.
Oskar aus der Mülltonne hat nämlich die Frisur eines Mitreisenden entdeckt, deren Durchmesser er nun unbedingt genau wissen will. Er fummelt einen Mini-Zollstock von seinem Schlüsselbund, reicht ihn uns und bittet uns, nachzumessen. Als er das Ergebnis von immerhin 38,5 cm erfährt, wünschen wir uns, wir hätten es ihm nicht gesagt, denn Oskar kennt seit fünf Minuten kein anderes Gesprächsthema mehr.
Bis er auf die Idee kommt, alle im Zug befindlichen Fahrräder am nächsten Bahnhof nach draußen zu stellen und abzuwarten, was passiert. Als wir uns standhaft weigern, bei dem Schwachsinn mitzumachen, will Oskar sich prügeln. Mit uns. Wir aber nicht mit ihm.
So steigt er, nachdem er sich noch ein letztes Mal nach seinem Joint erkundigt hat, an der nächsten Station aus und grölt noch laut: „Alle Schwarzfahrer zu mihiir!“
Wir atmen erleichtert aus und haben endlich wieder unsere Ruhe. Bis Clemens einsteigt.


Irgendwo zwischen Uelzen und Hannover, 9:30 Uhr

Clemens ist circa vier Jahre alt, hat überbesorgte Eltern, Verwandte, die man am schnellsten mit dem Zug erreicht, eine sehr nervige Kleinkindstimme und ist überdurchschnittlich neugierig.
Dass Clemens an der nächsten Station einsteigt, wissen wir dank der Menschen, die ihn bereits im Zug erwarten, schon zehn Minuten vorher.
Die scheinbar beste Freundin von Clemens erkundigt sich alle drei Mikrosekunden nach ihm und ihre Frage wird von ihrem Vater mit einem stets geduldigen „Clemens kommt gleich“ beantwortet. Wir malen uns derweil aus, was an Clemens so besonders ist und kommen zu dem Schluss, dass er eine abgefahrene Mischung aus Prinzessin Lilifee, dem Sandmännchen, allen Figuren der Sesamstraße (außer Oskar) und dem Terminator sein muss.
Ergo sind wir sehr enttäuscht, als wir am nächsten Bahnhof eine piepsige Kleinkindstimme hören, die sich von ihren Eltern verabschiedet. Dank der lauten Stimme von Clemens' Mutter wissen wir jetzt, dass Clemens nur drei Stationen fährt und seine Oma besucht. Dann ruft sie laut „Tschüss“, Clemens sagt „Tschüss“, wir sagen „Tschüss Clemens' Mutter“.
Die nächsten drei Stationen wird der ganze Zug aus sicherer Quelle mit Informationen zur Sesamstraße, dem Sandmännchen, Prinzessin Lilifee und Clemens' Oma versorgt. Wir vermissen den Terminator und bekommen Hunger, weil Clemens dem ganzen Abteil demonstriert, wie lecker Kekse sind, uns aber keine abgibt. Der Vater von Clemens bester Freundin bleibt weiterhin ruhig, wir haben ihn inzwischen in Verdacht, Oskars Joint geklaut zu haben.
Nachdem der Clemens-Clan endlich den Zug verlassen hat, atmen wir kollektiv durch, was ein bisschen so klingt wie der abfahrende Hogwarts-Express und beschließen, dass es sich jetzt auch nicht mehr lohnt, die letzten zwei Stationen bis Hannover zu schlafen.

Hannover, 10:15 Uhr
Essen!!!!

Hannover 10:30 Uhr-17:45 Uhr
nebensächlicher Shoppingaufenthalt

Bahnhof Hannover, 17:50 Uhr

Wir stehen am Bahnhof und warten auf unseren Zug, der den beunruhigenden und irgendwie anrüchigen Namen „Erixx der Heidesprinter“ trägt. Wie wir später herausfinden, stehen die beiden „x“ für „extreme Verspätung“, denn wir geraten in ein sogar für norddeutsche Verhältnisse schlimmes Unwetter, der Blitz legt die Stromversorgung lahm und wir verpassen drei Anschlusszüge an zwei Bahnhöfen.

Bahnhof Buchholz in der Nordheide, 19:50 Uhr – 20:35 Uhr

Wir warten im strömenden Regen auf den nächsten Metronom und überlegen kurzzeitig, nach Hause zu laufen, würde schneller gehen. Ich esse derweil Ritter Sport mit ganzen Mandeln.

21:00 Uhr
Hamburg Willhelmsburg bei Nacht, mehr nicht.

Regionalbahn nach Kiel, 22:00 Uhr

Ey, Dennis, komm jetzt, wir müssen nach Tarp!“, erschallt eine sehr betrunkene Stimme eines sehr betrunkenen jungen Mannes, der den noch betrunkeneren Dennis hinter sich her schleift und in den Zug zerrt. Wir sitzen inzwischen nur noch lethargisch da und starren vor uns hin. In jedem unserer Gesichter ist in großen Neonreklamebuchstaben ein deutliches „Scheiße“ zu lesen.
Neben uns sitzen einige Rucksacktorusristen, denen genauso wenig nach Reden zumute ist wie uns. Daher sitzen wir alle bräsig im Abteil, starren vor uns hin und hoffen, es möge bald vorbei sein. Dennis und sein Freund kommen heruntergetorkelt und wollen wissen, wie sie nach Tarp kommen. Wir sagen, dass wir es nicht wissen. Nachdem Dennis Freund vergeblich versucht hat, uns die Verantwortung für seinen hochachtungsvollen Freund zuzuschieben, zerrt er ihn wieder nach oben mit den Worten: „Ey, Dennis, der obere Teil des Zugs fährt nach Tarp!“

Kiel Hauptbahnhof, 00:20 Uhr
Sprinten zum Bus, landen inmitten betrunkener THW-Kiel Fans, unterhalten uns aber gut.

Rendsburg, 1:30 Uhr
Müssen eine halbe Stunde auf den Zug nach Tarp warten, werden von einem Mitglied der MLPD angesprochen, unterhalten uns prima, bis er mit uns eine Partei gründen will.
Erklären ihm, dass man für eine Partei sieben Leute braucht, wir aber nur fünf sind.
Er versteht es nicht.

Rendsburg, 2:10 Uhr
Einfahrt des Zuges nach Tarp. Steigen ein und versuchen, den Kommunisten loszuwerden. Klappt nicht.
Kurz bevor der Zug abfährt hören wir noch ein: „Ey, Dennis, jetzt komm, wir müssen nach Tarp!“

Zug nach Tarp, 2:20 Uhr
Dennis hat inzwischen ins Zugklo gekotzt, sich ausgezogen und seine Freunde in den Wahnsinn getrieben und der Kommunist spricht in klassischem Weltverschwörungston über Fracking und die USA. Wir haben uns an die Hintergrundbeschallung gewöhnt und starren wieder lethargisch vor uns auf den Boden.

Bahnhof Tarp, 2:45 Uhr
Steigen aus dem Zug aus und schlafen fast auf dem Bahnsteig ein.
Wanken zum parkenden Auto, setzten uns hinein und hören im Wegfahren noch ein lallendes: „Ey, Dennis, du hast dein T-Shirt vergessen.“
Beschließen in dieser Nacht, nie wieder Bahn zu fahren.


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